Fukushima und die Kunst des Wissens

  • Originalartikel von: Claire Leppold, Spezialistin für Katastrophenmedizin
  • Originaltitel: Fukushima and the Art of Knowing
  • Erste Veröffentlichung: The Huffington Post Japan, 18. Juni 2016
  • Übersetzung aus dem Original: Christof Merkli, 22. Dezember 2016
  • Zwischentitel durch Übersetzer angefügt zu Gunsten einer verbesserten Struktur des Textes

Fukushima und die Kunst des Wissens

Was treibt jemanden dazu, die halbe Welt zu umreisen, um in einem Spital zu arbeiten, das neben dem Atomkraftwerk Fukushima Daiichi liegt? Ich kann es ihnen sagen.

Am Anfang war es vor allem, weil ich nicht genug wusste. Dann aber immer mehr auch, weil ich mehr wissen wollte.

Am 11. März des Jahres 2011 wurde Japan von einem Erdbeben und einem darauffolgenden Tsunami getroffen. Das löste einen nuklearen Unfall aus. Vier Jahre später und 9‘000 Kilometer entfernt, es war Februar 2015, war ich als Masterstudentin an der Universität Edinburgh. An einer Gastvorlesung stellten japanische Wissenschaftler ihre Arbeit in Fukushima vor.

Ich wusste, dass sich dort in Fukushima ein nuklearer Unfall ereignet hatte. Ich nahm an, dies hätte zu gefährlichen Strahlenbelastung und eine Erhöhung der Krebserkrankungen geführt. Niemals hatte ich die Absicht, diesen Ort zu besuchen.

Überraschende Erkenntnis

Was ich bei dieser Vorlesung erlebte, war ein Konflikt zwischen dem, was ich zu wissen meinte und der Realität.

Die japanischen Wissenschaftler zeigten eine Serie von Präsentationen. Sie zeigten uns ihre Erkenntnisse über Fukushima. Die Ergebnisse zeigten eine überraschend tiefe interne und externe Strahlenbelastungen für die Bevölkerung. 1,2 Eine Massenkontrolle von Kleinkindern und Kindern zeigten keine erkennbare interne Strahlenbelastung. 3 Aber andere Gesundheitsprobleme wurden gefunden: Im Kontrast zu der tiefen Strahlenbelastung wurde eine erhöhte Belastung von mit erhöhter Radioaktivität nicht erklärbaren Krankheiten wie Diabetes, Herzkrankheiten und Bluthochdruck gefunden. 4,5 Besonders Gesundheitsrisiken in Verbindung mit der Evakuation fielen den Wissenschaftlern auf. 5 Darin enthalten der Nachweis, dass die sofortige Evakuation von älteren Leuten aus Pflegeeinrichtungen das dreifach so hohe Todesrisiko gegenüber nicht Evakuierten zur Folge hatte. 6 Es wurde uns gezeigt, dass die radioaktive Strahlung kaum das grösste Problem für Fukushima darstellen würde.

Ich war überrascht. Es schien mir tatsächlich das Gegenteil von dem zu sein, was man über Fukushima so denkt. Das war bestimmt nicht DAS Fukushima, von dem ich gehört oder Bilder gesehen habe und meine Neugierde war geweckt. Ich sprach die Wissenschaftler darauf an und schlug weitere Untersuchungen vor. Sie luden mich ein, nach Fukushima zu kommen und dort meine Masterarbeit zu schreiben. Ich war einverstanden damit.

Im Mai 2015 kam ich das erste Mal in Fukushima an und begann sofort meine Forschungen am Minamisoma Municipal General Hospital. Ich schrieb meine Masterarbeit, erhielt das Diplom und bekam einen Vollzeitjob am Spital, wo ich heute noch arbeite.

Es gibt viele Dinge, über die ich schreiben könnte, was ich in Fukushima gelernt habe. Aber eine der unerwartetsten Erfahrungen war die Konfronation zwischen meinem vermeintlichen Wissen und der Realität, die ich in Fukushima vorfand. Es gab wenige Vorurteile, die durch meine Erfahrungen vor Ort bestätigt wurden und ich war erschlagen vom Gefühl, so viele Fakten nicht gewusst zu haben. Ich bemerkte auch, wie viele Vorurteile und Falschinformationen in unserer westlichen Gesellschaft ganz selbstverständlich als gegebene Wahrheit über Fukushima angenommen werden.

Wie funktioniert „das Wissen von Dingen?“ Es gibt nicht nur eine Antwort.

Über das Wissen zu diskutieren ist schwierig. Unsere eigenen Gefühle und Meinungen können das werden, was wir „Wissen“ nennen. Man könnte sagen, das was uns die Medien vermitteln ist eine Quelle des Wissens. Wissenschaft ist eine Methode zur Wissensbildung.

Schaden durch Falschinformation

Aber was geschieht, wenn unser Wissen die reale Situation nicht reflektiert? Das bringt mich zum Zweitwichtigsten, was ich in Fukushima gelernt habe: Der Schaden durch Falschinformation. Oder in anderen Worten, wie meine Ideen, die ich vorher hatte und bei anderen immer noch feststelle, gefährlich sein können.

Ich sah die aktuellen Resultate der Falschinformation nicht, bis ich nach Fukushima ging. Jetzt sehe ich sie überall.

Es gibt kein allgemeingültiges Beispiel aber wir können damit beginnen, über Gerüchte und Stigmatisierung zu reden. Ein typisches Problem hier war die Falschinformation über Strahlungsstärken und die Wirkung solcher Werte auf die Gesundheit. Ich habe von vielen Bewohnern gehört, wie ihre Lebensqualität durch diese Falschinformationen gelitten hat. Bei der Evakuierung wurden einige Bewohner von Wohnung und Familie getrennt, nur weil die Strahlung fälschlicherweise als gefährlich bezeichnet wurde. Es wurde mir von Eltern junger Männer berichtet, die sich gegen die Wahl einer Braut aus Fukushima gewehrt haben, weil sie vermuteten, die Frau würde keine gesunden Kinder gebären können. Einige Kinder glaubten selber, dass sie nie gesunde Nachkommen haben könnten, nur weil sie Gerüchte darüber hörten. Es gibt unendlich viele Beispiele.

Gerüchte und Ängste weitgehend unbegründet

Das ist kein schönes Thema um darüber zu reden. Tatsächlich ist es ein schreckliches Thema. Das ganze wird nur noch schlimmer, wenn man daran denkt, dass diese Gerüchte durch die wissenschaftlichen Fakten widerlegt sind. Vor kurzem stellte das United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) formell fest, dass keine gesundheitlichen Auswirkungen für die allgemeine Bevölkerung von Fukushima zu erwarten sind. 7 Die UNSCEAR hat zusätzlich hervorgehoben, dass in folgenden Generationen weder Erb- noch Genschäden erwartet werden müssen. 7 Die Falschinformationen, welche zu Stigmatisierung und anschliessenden Einschränkungen des Lebens geführt haben, stehen in Konflikt mit der realen Situation. Ein Beispiel, wie verdrehtes Wissen das Leben von durch Katastrophen betroffener Menschen unnötig erschwert und verkompliziert.

Falsche Hilfe

Viele Leute sagen, sie würden den Betroffenen von Fukushima helfen. Viele meinen damit vor allem die Kinder von Fukushima. Aus diesem Grund habe ich oft gesehen, dass Sommerlager speziell für die betroffenen Kinder angeboten werden. Aktuell werden diese Lager gerne ausserhalb der Präfektur von Fukushima durchgeführt. Es gibt Lager, bei denen der Grund für diesen Exodus nicht erklärt wird. Andere erklären den Grund explizit damit, dass sie die Strahlenbelastung für die Kinder vermeiden wollten, damit die Kinder eine „Chance hätten, sich unbesorgt in der freien Natur bewegen zu können“. Ich frage mich, ob die Organisatoren dieser Lager, also die Leute, die sagen, sie wollten den Kindern helfen, sich überhaupt bewusst sind, was die reale Strahlenbelastung hier für geringe Werte aufweist. Ist es ihnen bewusst, was für eine wunderbare Natur die Präfektur Fukushima aufweist und dass es für die Kinder an den meisten Orten absolut sicher ist, sich in der freien Natur zu bewegen?

Natürlich sind Sommerlager für Kinder grossartig und ich würde es jedem Kind gönnen, im Sommer dieses Vergnügen zu haben. Aber ich frage mich auch, tun die Organisationen dies nicht auf Kosten einer Stigmatisierung dieser Kinder als Opfer der Atomhavarie? Ich frage mich, ob diese Lager auf wissenschaftlichen Fakten aufgebaut sind oder ob die Organisatoren bloss irgendwelchen Falschinformationen aufsitzen.

Ich frage mich weiter, ob diese Sommerlager nicht besser innerhalb der Präfektur Fukushima durchgeführt würden. Wenn wir wirklich einen Unterschied machen wollen und den Leuten echt helfen wollen, sollten wir unsere Aktionen auf die wahren Fakten aufbauen, um effektiv zu handeln. Aber diese Sommerlager sind nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt Leute, die schlagen ernsthaft vor, dass alle Kinder aus Fukushima evakuiert werden sollten.

Hat irgendwer daran gedacht, was für Auswirkungen dieses Handeln auf das Leben und die Existenz dieser Individuen hat?

Ich selber habe das nicht bedacht, bis ich nach Fukushima gekommen bin.

Eine nukleare Katastrophe ist ein schreckliches Ereignis. Es ist verständlich, dass Menschen auf eine riskante Situation emotional reagieren. Es ist einfach das Schlimmste anzunehmen und Gerüchte zu streuen. Es ist aber von vorrangiger Bedeutung zu bedenken, was diese Falschinformationen bewirken. Unbegründete Phantasievorstellungen führen zu viel Leid. Falschinformationen sind ein grosses Problem das in der Zukunft überwunden werden muss. Es ist für die Zukunft absolut notwendig, die wahren Gründe und nur gut fundierte Fakten zu berücksichtigen und zu verstehen, was für Gründe zu einer spezifischen Sicht der Dinge führen.

Frage dich selber, was du über Fukushima denkst und warum du das so oder anderrs siehst. Der zweite Schritt ist die Vertiefung der eigenen Informationsbasis. Lese Artikel, mit denen du übereinstimmst. Aber wichtiger noch, lese auch Artikel, mit denen du NICHT übereinstimmst. Lese viel und wäge alles gegeneinander ab. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dieser Weg der einzig Richtige ist, um nahe an die Realität zu kommen ohne dass man direkter Zeuge eines solchen Vorfalls ist.

Die gleichzeitige Erkenntnis meines eigenen limitierten Wissens und der Folgen, die Fehlinformationen auf die Leben der Betroffenen haben kann, ist der auffallendste Aspekt einer Beurteilung von Fukushima. Ich schreibe diesen Artikel in der Hoffnung dass er die Leser dazu bringt, die Vorgänge in Fukushima wirklich erkennen zu wollen und nicht nur zu glauben. Wenn wir den Betroffenen pragmatisch helfen oder ihre Situation wirklich verbessern wollen, müssen wir die Realität und die spezifische Situation zuerst ehrlich begreifen und verstehen.

Ich zog nach Fukushima, weil ich erkannt habe, dass ich nicht genug darüber wusste und weil ich das ändern wollte. Ich will immer noch mehr darüber erfahren und ich hoffe, das geht anderen genauso.

Referenzen

  1. Tsubokura M, Kato S, Morita T, Nomura S, Kami M, Sakaihara K, Hanai T, Oikawa T, Kanazawa Y (2015). Assessment of the Annual Additional Effective Doses amongst Minamisoma Children during the Second Year after the Fukushima Daiichi Nuclear Power Plant Disaster. PLoS One. 2015 Jun 8;10(6):e0129114
  2. Tsubokura M, Gilmour S, Takahashi K, Oikawa T, Kanazawa Y (2012). Internal radiation exposure after the Fukushima nuclear power plant disaster. JAMA. 2012 Aug 15;308(7):669-70
  3. Hayano RS, Tsubokura M, Miyazaki M, Ozaki A, Shimada Y, Kambe T, Nemoto T, Oikawa T, Kanazawa Y, Nihei M, Sakuma Y, Shimmura H, Akiyama J, Tokiwa M. Whole-body counter surveys of over 2700 babies and small children in and around Fukushima Prefecture 33 to 49 months after the Fukushima Daiichi NPP accident. Proc Jpn Acad Ser B Phys Biol Sci. 2015;91(8):440-6. doi: 10.2183/pjab.91.440.
  4. Tsubokura M, Hara K, Matsumura T, Sugimoto A, Nomura S, Hinata M, Shibuya K, Kami M (2014). The immediate physical and mental health crisis in residents proximal to the evacuation zone after Japan’s nuclear disaster: an observational pilot study. Disaster Med Public Health Prep. 2014 Feb;8(1):30-6.
  5. Nomura S, Blangiardo M, Tsubokura M, Ozaki A, Morita T, Hodgson S. Postnuclear disaster evacuation and chronic health in adults in Fukushima, Japan: a long-term retrospective analysis. Postnuclear disaster evacuation and chronic health in adults in Fukushima, Japan: a long-term retrospective analysis.BMJ Open. 2016 Feb 4;6(2):e010080. doi: 10.1136/bmjopen-2015-010080.
  6. Nomura S, Blangiardo M, Tsubokura M, Nishikawa Y, Gilmour S, Kami M, Hodgson S. Post-nuclear disaster evacuation and survival amongst elderly people in Fukushima: A comparative analysis between evacuees and non-evacuees. Prev Med. 2016 Jan;82:77-82. doi: 10.1016/j.ypmed.2015.11.014.
  7. United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR). Developments since the 2013 UNSCEAR report on the levels and effects of radiation exposure due to the nuclear accident following the great East-Japan earthquake and tsunami: A 2015 white paper to guide the Scientific Committee’s future programme of work. 2015. United Nations: New York

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